Dr. Nina Held
„Die Entscheider drohen abzustumpfen“
Dr. Nina Held lehrt an der University of Sussex. Ihr Forschungsinteresse zu LGBT*‑Asyl entwickelte sich aus ihrer Arbeit in verschiedenen Menschenrechtsorganisationen. Sie ist Teil des vierjährigen Forschungsprojekts SOGICA, das in Deutschland, Italien und Großbritannien Daten zu den sozialen und rechtlichen Erfahrungen von Geflüchteten erhebt. Außerdem wurde sie bei der Auswertung von Fragebögen eingebunden, die von verschiedenen NGOs in Nordrhein- Westfalen an LGBT*- Geflüchtete verteilt wurden und Fragen nach deren Erfahrungen in den Anhörungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) beinhalten. Im Interview spricht sie über die Rolle von Anhörer*innen, Dolmetscher* innen und die Schwierigkeit, die eigene Sexualität zu beweisen.
Was macht die Anhörungen von LGBT*-Flüchtlingen so sensibel, dass sie eine wissenschaftliche Untersuchung wert sind?
Da gibt es zwei Antworten. Einmal die der Geflüchteten: Wenn jemand aus einem Land kommt, in dem Homosexualität kriminalisiert ist und man gar nicht über seine Sexualität reden kann, dann ist die Frage, ob man sich überhaupt traut, in einer Anhörung etwas zu sagen, wofür man im Herkunftsland ins Gefängnis gekommen wäre. Und dann ist da noch die Perspektive der Behörden: Wie wird mit dem Gesagten umgegangen vonseiten der Anhörer*in oder der Dolmetscher*in?
Inwiefern spielt denn das Geschlecht der Anhörer*innen eine Rolle?
Die meisten Geflüchteten wissen nicht, dass sie sowohl weibliche als auch männliche Anhörer und Dolmetscher beantragen können. Gibt es vorher Beratung durch NGOs, wissen mehr von ihnen Bescheid. Gerade Frauen, die vorher Gewalt von Männern erfahren haben, sind oft sehr eingeschüchtert. Einzelne haben gesagt, sie konnten überhaupt nicht über ihre Sexualität reden. Es ist deshalb sehr wichtig, den Geflüchteten schon vor den Anhörungen klar zu machen, dass sie das Geschlecht der Anhörer*innen auswählen können.
Welche Rolle spielen die Übersetzer*innen?
Die meisten Geflüchteten, mit denen wir gesprochen haben, haben negative Erfahrungen mit Dolmetscher*innen gemacht. Die eine Problematik ist die Qualität der Übersetzung. Wenn Fehler in der Übersetzung gemacht werden, kann das fatale Folgen für die Entscheidung des BAMF haben. Die andere ist der Umgang der Dolmetscher*innen mit Sexualität. Sie reagieren teilweise feindselig und spielen eine aktivere Rolle als sie sollten: Sie mischen sich ein und wirken auf die Geflüchteten ein, was sie sagen sollen und was nicht. Oder sie übersetzen nur die Teile, die sie übersetzen wollen, weil das andere ihnen persönlich widerstrebt.
Helfen denn die Sonderbeauftragten der Behörden, also speziell für den Umgang mit LGBT*-Geflüchteten geschulte Anhörer*innen, hinsichtlich der Anerkennungsquote?
Die Studie in Nordrhein‑Westfalen hat gezeigt, dass alle sieben Geflüchtete, die einen Sonderbeauftragten bei der Anhörung hatten, eine Form der Anerkennung bekommen haben. Man kann allerdings nicht davon ausgehen, dass alles besser läuft, nur weil ein Sonderbeauftragter die Anhörung führt. Hinsichtlich der Sensibilität und der Art der Fragestellung machen sich aber positive Auswirkungen bemerkbar – einfach, weil diese Sonderbeauftragten besser ausgebildet sind. Trotzdem: Wenn jemand täglich die Geschichten von LGBT* ‑Geflüchteten hört, droht auch bei ihnen die Gefahr der Abstumpfung.
Was müsste denn passieren, damit all diejenigen, die für Asyl in Frage kommen, auch anerkannt werden?
Eigentlich müsste sich die Kultur ändern. Wenn in den Medien die ganze Zeit von „Flüchtlingskrise“die Rede ist, hat das natürlich auch Einfluss auf die Entscheider. Dann hält sich der Irrglaube, dass diese Menschen aus ökonomischen Gründen nach Deutschland kommen, hartnäckig in den Köpfen.
Ist es überhaupt möglich, die sexuelle Orientierung zu beweisen?
In England gibt es einen Anwalt, der ein Modell entwickelt hat, das DSSH-Modell. D steht für „difference“, S für „stigma“, S für „shame“ und H für „harm“. Sein Modell geht davon aus, dass man in den Anhörungen nach Anzeichen für diese vier Felder schen kann. Aber auch das wird kritisch betrachtet – schließlich lebt jeder seine Sexualität anders aus und hat seine eigene Geschichte. Oft wird beim BAMF argumentiert, die Geschichten seien nicht detailliert genug. Dass die Menschen, die da ihre Geschichten erzählen, verschieden sind, bleibt oft unberücksichtigt. Unsere Empfehlung ist, die sexuelle und geschlechtliche Selbstidentifikation zu akzeptieren und das Zusammenspiel verschiedener sozialer Faktoren zu berücksichtigen. Wie jemand aufgewachsen ist, welche Bildung er genossen hat, was er erlebt hat. Das Gesamtpaket zählt.
Text &
Interview: Dominik Wolf
Illustration: Franziska Romana